Brief von Robert Franz an Erich Prieger vom 29. Januar 1882
Brief
- Vollständiger Titel: Brief von Robert Franz an Erich Prieger vom 29. Januar 1882
- Datierung: 29.01.1882
Verknüpfte Werke
Ich hatte viel Bekümmernis [BWV 21] |
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Inhalt
Mein lieber Herr u. Freund!
Ihre Ansicht, im Texte sei nur eine allgemeine Richtschnur für die Stimmung der Composition gegeben, trifft bei Bach und Händel ziemlich zu, in Bezug auf das moderne Lied aber nicht. Nach meinem Dafürhalten regt der Text nicht nur zur Composition an, sondern diese liegt bereits in ihm geheimnissvoll verborgen. Es versteht sich ganz von selbst, dass ich hier nur von Gedichten rede, die sich wirklich nach Musik sehnen, mithin so lang als Halbwesen in der Welt umherschweifen, bis sie ihre Ergänzung im Tone gefunden haben. Hiermit spreche ich kein Paradoxon aus, denn wir wissen ja aus Rückert's famosen Stammbuchsversen, dass Dichtung u. Gesang ursprünglich stets in Verbindung mit einander auftraten. Also auch hier beisst sich die Schlange wieder einmal in den Schwanz, indem die moderne Lyrik — an die Dichter unserer Tage denke ich dabei nicht, weil sie nur in abgewirthschafteten Phrasen produzieren — Eigenschaften zeigt, die mit denen des uralten Volksliedes merkwürdig übereinstimmen. Sehen Sie sich Goethe's Gedicht:„unter allen Wipfeln ist Ruh", oder Heine's Verse: „Leise zieht durch mein Gemüth" näher darauf an u. Sie werden finden, dass beide nicht nur componirbar sind, sondern nach Musik geradezu verlangen. Dies zugestanden, folgt mit Nothwendigkeit daraus, dass jedes lyrische Gedicht nur in einer Form zum musikalischen Ausdruck gelangen kann. Missverstehen Sie mich bei Leibe nicht! So sind z. B. jene Verse Goethes bereits unzählinge Male in Musik gesetzt worden, doch darf man wohl fragen, ob ihnen bisherige Versuche wirklich zur Ruhe verholfen haben? Ich für mein Theil bezweifle es! Dagegen hat Schubert Gretchens Liede: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer" diesen Dienst erwiesen: wer es seitdem componirte, könnte
nur einem Wechselbalge zum Dasein verhelfen! —
Ob Sie nun diesen Behauptungen überall beipflichten werden, bezweifle ich. Widerspruch kann ich jedoch vertragen, denke dann aber mit weiteren Thatsachen herauszurücken. Namentlich habe ich hier nur lyrische Gedichte im Auge, denn in ihnen ist jenes persönliche Element ausgeprägt, das wieder zur Individualisirung in Tönen führt. Der Messentext, Bibelverse u. s. w. bringen dagegen allgemeine Wahrheiten zum Ausdruck, lassen, also verschiedene Auffassungen zu. Aber auch in dieser Sphäre handelt sich's zuweilen um lyrische Momente, die nur in einer Tonform befriedigenden Ausdruck finden können. Vergleichen Sie doch einmal Bach's Auffassung der Worte: „Was betrübst Du Dich, meine Seele" in der Cantate „ich hatte viel Bekümmerniss" mit der anderer Componisten! Erschöpfender als dort kann deren Gehalt gar nicht wiedergegeben werden: man denkt dabei keinen Augenblick an Bach, sondern hat nur das Gefühl eines ewigen Bestandes. Zeitlosigkeit ist aber das Höchste, was in der Kunst erreicht werden kann: die Schöpfungen eines Homer, Raphael, Shakespeare, Seb. Bach, Beethoven etc. beweisen es. —
Ist nun an meiner Ansicht, dass jedes lyrische Gedicht nur einmal komponirt werden kann, etwas Wahres, so tritt allerdings das moderne Lied in den Fällen, wo es thatsächlich dieser Forderung entspricht, in ein Stadium, das recht sehr der Beachtung werth sein dürfte: unter keinen Umständen ist es dann unter die Bagatellsachen zu werfen.
Hoffentlich setze ich mich bei Ihnen dem Verdacht nicht aus, als ob ich hier nur eine oratio pro domo hielte. Dass ich mich stets im Sinne obiger Anschauungen zu äussern suchte, leugne ich nicht — eine wie grosse Kluft das Streben aber von der Erfüllung noch trennen mag, darüber zu entscheiden steht Anderen besser zu, als mir.
Halle, d. 29. Jan. 82.
ergebenster
Rob. Franz.