Brief von Robert Franz an Erich Prieger vom 8. Februar 1882
Brief
- Vollständiger Titel: Brief von Robert Franz an Erich Prieger vom 8. Februar 1882
- Datierung: 08.02.1882
Verknüpfte Werke
Herz, ich habe schwer an dir zu tragen |
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Herz, ich habe schwer an dir zu tragen |
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Die Verlassene |
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Norwegische Frühlingsnacht |
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Inhalt
Mein lieber Herr u. Freund!
Obschon ich Widerspruch recht gut vertrage u. ihm mehr verdanke, als seinem Gregentheil, dürfen Sie doch nicht jedes meiner Worte gar zu scharf auf's Korn nehmen, sonst verliere ich die Unbefangenheit, über ein Thema, das sehr sauber angefasst sein will, weiter zu plaudern. Dass Bach u. Händel ihre Texte von allen Seiten beleuchten, bald dieses Wort, bald jenen Satz aus ihnen hervorziehen, um sie musikalisch zu interpretiren, dass sie also momentan das besondere dem allgemeinen selbstständig gegenüber stellen, kann sich doch unmöglich Ihrer Beobachtung entzogen haben. Uebrigens theile ich ja vollkommen Ihre Ansicht: die alte, naive Forderung „das Einzelne der Gesammtstimmung unterzuordnen" fände auch im modernen Liede, wie ich es wenigstens zu cultiviren versucht habe, bis auf einen gewissen Punkt Anwendung. Der Unterschied zwischen Sonst und Jetzt besteht nur darin, dass die Alten mit ihren Texten Fangball spielten, während wir Neueren es nicht thun, sondern Wiederholungen der Worte möglichst vermeiden. Im modernen Liede dürfen eben die Linien des Versgefüges nicht verwischt werden, sondern müssen noch schörfer heraustreten, wie in der simpelen Sprache. Dergleichen Rücksichten nimmt nun die alte Form der Ariedurchaus nicht, sie zerschneidet vielmehr das poetische Substrat in kleine Theilchen, die man erst wieder einander nahe bringen muss, um den Ideengang des Textes überblicken zu können. Hübsch finde ich dies Verfahren nicht! Doch wird es einigermassen durch die Thatsache gerechtfertigt, dass in jener Periode der Ton dem Worte gegenüber die Herrschaft völlig an sich gerissen hatte. Unsere Zeit sucht nun das gestörte Gleichgewicht zwischen beiden Faktoren wieder herzustellen u. thut daran sehr gut: mit der puren Musikmacherei lässt sich gegenwärtig nicht viel erzielen. —
Den Unterschied zwischen „einer an u. für sich hinreissenden Melodie" u. „einer minder genialen", aber „dem Texte weit angepassteren" verstehe ich schon, doch scheint er mir nicht recht hierher zu gehören, weil sich's doch in unserem Falle um die absolute Einheit von Wort u. Ton handelt, ein Postulat, dem jene „hinreissende Melodie" keineswegs entspricht. Uebrigens darf die „dem Texte weit angepasstere Melodie „nicht" minder genial" sein, wenn sie Anspruch darauf machen will, den Gehalt des Gedichtes in Tönen vollkommen zu erschöpfen, Ich für mein Theil würde es auch dem grössten Genie verdenken „Gretchen am Spinnrad" oder das Lied der Suleika: „Was bedeutet die Bewegung" neben Schubert noch einmal zu componiren, denn der hat ja beiden Gedichten das musikalische Mark bis auf den letzten Rest ausgesogen. —
Welchen intensiven Einfluss aber der Text auf die Composition ausübt, mögen Ihnen folgende Beispiele zeigen, für die ich bürgen kann, weil ich sie selbst erlebt habe.
Vor Jahr u. Tag suchte mich ein Herr v. Christianowitsch aus Moskau auf, der sich lebhaft für meine Lieder interessirte. Im Verlauf des Gespräches äusserte er sich u. A. folgendermassen über sie: „Man merkt es diesen Compositionen sofort an, dass sie nur ein Deutscher gesetzt haben kann — und dennoch enthalten sie wieder Züge, die auffallend an Fremdländisches erinnern. So erkläre ich No. 3 Ihres Op. 27: „Herz, ich habe schwer an Dir zu tragen" geradezu für ein Russisches Volkslied, das ohne weiteres in den Spinnstuben meiner Heimath gesungen werden könnte". Darauf zuckte ich nur stumm die Achseln, weil ich wirklich nichts zu sagen wusste. —
Vielleicht nach Jahresfrist fiel mir ein Artikel in die Hände, der von der merkwürdigen Thatsache sprach, dass die Chinesische Tonleiter, der die Quarte u. Septime unserer Scala fehlen, in Vorzeiten den salto mortale nach Schottland gemacht haben müsse, denn die Schottischen Volksmelodien ermangelten ja auch der Quarte u. Septime. Diese Bemerkung veranlasste mich, meine Compositionen zu Burns'schen Texten auf sie hin zu prüfen, wobei sich's denn zeigte, dass eine Anzahl derselben an den entscheidenden Stellen ebenfalls der genannten Intervalle entbehrte. No: 6, Op. 21 u. No: 6, Op. 31 werden es Ihnen beweisen. Nun erinnerte ich mich aber auch wieder jenes Russen u. seiner Bemerkung.Sofort schlug ich in Mörike's Gedichten nach, wo ich denn zu meinem grössten Erstaunen das oben citirte: „Herz, ich habe schwer an Dir zu tragen" als „Maschinka's Lied, frei nach dem Russischen" überschrieben fand.
Dabei ist es jedoch nicht geblieben! Nach Ambros ist No: 5 meines Op. 40 ein Böhmisches Volkslied, nach Lobedanz No: 6 meines Op. 48 ein Norwegisches geworden — von den deutschen Volksliedertexten, die ich in Musik gesetzt habe, ganz zu schweigen. Ueber letztere spricht sich Sarau's Broschüre sehr eingehend aus. —
Nun bitte ich Sie aber, mir es auf mein Wort zu glauben, dass ich mich niemals um Volkslieder, namentlich um deren Melodien, gekümmert habe, mithin gar nicht in der Lage sein konnte, ihren Stil zu imitiren — wobei wahrscheinlich nicht viel Gescheidtes herausgekommen wäre. Es bleibt also nur übrig, jene seltsamen Erscheinungen aus den Texten selbst zu erklären, die ein Etwas enthalten müssen, das zu einer bestimmten musikalischen Ausführung hindrängt. Die Begabung vorausgesetzt, diesen innersten Kern ergreifen u. ihm Ausdruck in Tönen geben zu können, zwingen Resultate hervor, wie sie sich in meinen Liedern zu Dutzenden nachweisen lassen. Dass auch in solchen Fällen der Musik ihre selbstständige Entwicklung unverkümmert bleibt, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Wagner fasst das Verhältniss zwischen Poesie u. Musik wie das zwischen Mann u. Weib auf — ganz meine Ansicht!
In der Mehrzahl der lyrischen Gedichte, die nach Musik verlangen, verbirgt sich im tiefsten Grunde eine Persönlichkeit, welche keineswegs immer die des Dichters zu sein braucht. Wäre ich ein Maler, dann würde ich sie in den verschiedensten Bildern zeichnen, so deutlich stehen mir diese Wesen vor der Seele. Leider bin ich nur ein Musiker u. musste daher mit einem Material wirtschaften, das jene Züge nur in unbestimmten Umrissen wiedergeben kann. — Hier befinden wir uns freilich erst recht auf einem Gebiete, zu dessen Klärung die Sprache nicht ausreichen will. Man muss eben dergleichen in sich als Empfindung durchlebt haben, um au das Vorhandensein solcher Luftgestalten zu glauben.
Endlich wurde ich noch, wiederum nur auf Anlass der Texte, zu Ausdrucksformen gedrängt, die von unserer Zeit weit abliegen: ich denke hier an den Gebrauch der alten Kirchentonarten. Theoretisch weiss ich über sie wenig Auskunft zu geben, ich studirte sie nur praktisch an den Chorälen. Doch lasse ich mir über diesen Mangel keine grauen Haare wachsen, weil es denn doch vorzuziehen ist, im Geiste dieser Tonreihen schreiben zu können, als in deren Form wissenschaftlich eingedrungen zu sein. —
Nun ersuche ich Sie aber dringend, nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage zu legen, sondern ihren Sinn so weit als möglich zu nehmen. Auch bin ich nicht so anmassend, meine persönlichen Erfahrungen zu allgemeinen Wahrheiten stempeln zu wollen: doch darf ich mit Bestimmtheit versichern, mich so u. nicht anders verhalten zu haben, als in obigen Mittheilungen angedeutet wurde. . . .
Halle d. 8. Febr. 82.
Ihr
Rob. Franz.